Freitag, 18. März 2011

Die Vorteile der Maßkleidung


Bei Henry Poole in der Savile Row wird vorwiegend britische Klassik geordert, ein roter Kragen gilt da beim Tweedmantel schon als exzentrisch.

Maßkleidung passt besser als Kleidung von der Stange – darin sehen viele Schneiderkunden den Hauptvorteil ihrer handgemachten Garderobe. Ein Kleidungsstück von der Stange, selbst wenn es aus einer hochwertigen und teuren Konfektionskollektion stammt, kann kaum jemals so gut sitzen. Beim Maßanzug dagegen stimmt einfach alles. Die Jacke ist weder zu kurz noch zu lang und hat genau die richtige Breite im Rücken. Der Kragen steht nicht vom Hals ab. Das Armloch sitzt an der richtigen Stelle, nicht zu weit vorn und nicht zu weit hinten. Es ist hoch genug, um die Jacke bei jeder Bewegung in einer korrekten Position zu halten, aber nicht so hoch, dass es unter der Achsel kneift. Der Ärmel ist schmal geschnitten und ohne überflüssige Weite. Er ist so eingesetzt, wie es die natürliche Armhaltung des Kunden erfordert. Wenn die Arme locker herunterhängen entstehen keine Falten, weder am Ärmelansatz noch in der Armbeuge. Die Weste beengt nicht und klafft im Sitzen nicht auf, ihr Saum bedeckt den Hosenbund, denn das Hemd soll nicht hervorschauen. Die Hose ist weder zu eng noch zu voluminös und spannt nicht über dem Gesäß. Die Bundfalten springen nicht auf. Der Stoff fällt glatt und ohne irgendwo aufzusetzen, die Bügelfalte verläuft gerade und genau über die Mitte des Knies.

Doch es ist nicht allein die Passform, die für die Eleganz der Maßkleidung verantwortlich zeichnet, ebenso unverzichtbar sind Balance und Proportion. Unter Balance verstehen wir, dass Länge und Weite von Jacke, Hose und Weste gleichmäßig und ausgewogen sowohl auf die Vorder- und Rückseite als auch auf die rechte und linke Körperhälfte verteilt sind. Eine gut balancierte Jacke ist an allen Stellen gleich lang, und sie steht auch dann nicht hoch oder hängt herunter, wenn ihr Besitzer einen starken Bauch, eine schiefe Schulter oder einen Rundrücken hat. Die Proportion des Kleidungsstücks sorgt dafür, dass die Vorteile der Figur unterstrichen werden. Sind die Komponenten eines Outfits proportional perfekt auf die Statur des Trägers abgestimmt, entsteht ein harmonischer Gesamteindruck, und Problembereiche fallen weniger auf. Zwar wird ein korpulenter Mann nicht plötzlich wie eine Bohnenstange aussehen, doch seine Erscheinung kann durch einen guten Maßanzug insgesamt eleganter und gestreckter wirken.

Die Vorteile der Maßschneiderei liegen allerdings nicht nur in Passform, Balance und Proportion. Viele Kunden überlassen diese eher technischen Details vertrauensvoll ihrem Schneider und genießen indessen in aller Ruhe den schier unbegrenzten Reichtum an Stoffen und Dessins, der, zusammengeheftet zu handlichen Bündeln, im Ladengeschäft des Ateliers ausliegt. Statt wie beim Herrenausstatter mit einer eng begrenzten Auswahl dessen, was in dieser Saison gerade in Mode ist, vorlieb nehmen zu müssen, darf der Kleidungsenthusiast selbst in der kleinsten Schneiderei aus dem Vollen schöpfen. Wer glaubt, mit „blauer Nadelstreifen“ oder „dunkelgrau“ seinen Wünschen bereits präzisen Ausdruck verliehen zu haben, findet hier Dutzende von Variationen eben jener Themen. Denn selbst die ganz grundlegenden Dessins und Farben, die Dauerbrenner, Standards, Klassiker und Unentbehrlichen, die niemals Modischen und deshalb auch niemals Unmodischen, werden von Weberei zu Weberei immer wieder verändert – und so kann sich jeder genau den „blauen Nadelstreifen“ aussuchen, der ihm am besten gefällt.

Die lange Haltbarkeit von Maßkleidung gehört zu ihren geradezu legendären Pluspunkten – fast jeder hat schon einmal die Geschichte von einem uralten aber immer noch perfekten Anzug gehört. Oder die Mär von der Tweedjacke, die heute genauso gut sitzt wie am Tage ihrer Fertigstellung vor 20 Jahren. Auch wenn in solchen Anekdoten gern übertrieben wird, besitzt Maßkleidung zweifellos eine lange Lebensdauer. Diese Unvergänglichkeit lässt sich in den meisten Fällen jedoch eher auf einen sehr zeitlosen Schnitt denn auf die manuelle Fertigung zurückführen. Handnähte müssen nicht unbedingt besser halten als Maschinennähte. Davon abgesehen haben heutige Anzüge eigentlich kaum mehr die Chance, das hohe Alter ihrer Vorgänger zu erreichen, denn die inzwischen so beliebten leichten Stoffe sind bei weitem nicht mehr so strapazierfähig wie die früher üblichen Mittel- und Schwergewichte. Doch wie lange wir uns an einem Kleidungsstück erfreuen können, hängt nicht zuletzt von der Beanspruchung ab. Ein Anzug aus einem luxuriösen Super-200-Kaschmirgewebe zu kaum spürbaren 170 Gramm wird auch in zehn Jahren noch gute Dienste leisten, vorausgesetzt er verbringt einen Großteil seiner Zeit im Schrank. Die Bürokluft aus einer soliden 320-Gramm-Qualität, die uns Tag für Tag zur Arbeit begleitet, kann dagegen schon nach fünf Jahren verschlissen sein.