Dienstag, 6. März 2012

Warum in die Ferne schweifen? Teil 2

Mein erster Anzug von Tobias Tailors, einige Jahre später bei einem Event bei Görtz in Hamburg (Foto: Görtz)

Das erste Teil, das zur Anprobe fertig war, hing in London für mich bereit. Gemäß der dortigen Übung waren die Ärmel dabei schon angeheftet. Die Anprobe war ein Erfolg, nur die Schultern waren beträchtlich zu weit. Bei Heinz-Josef Radermacher ging es ganz anders zu. Ich wohnte damals relativ nah an Düsseldorf, deshalb lud er mich zu einer Art Vorprobe ein. Die Jacke war quasi nur skizziert und für mich als Laien und Neuling im Atelier nur in Umrissen zu erkennen. Wenig später folgte die erste Anprobe – ohne Ärmel natürlich. Schließlich die zweite Anprobe und dann die Fertigprobe. Der Blazer ist sehr gut geworden, dennoch orderte ich in den folgenden Jahren weiter bei Tobias Tailors, genauer gesagt bei John Coggin. Dies lag an meiner Liebe zur britischen Bekleidungskultur und an dem guten Verhältnis zu dem englischen Schneider. Als sein Partner und er das Ladengeschäft aufgeben mussten, arbeitete John Coggin zunächst als Einzelkämpfer weiter, dann wurde er von dem Herrenausstatter Hackett für dessen Filiale im Londoner Bankenviertel als Zuschneider engagiert.

John Coggin im Ladengeschäft von Tobias Tailors in London (Foto: Bernhard Roetzel)

John Davies, Partner von John Coggin bei Tobias Tailors, bereitet einen Anzug für die erste Anprobe vor (Foto: Bernhard Roetzel)


Mein Interesse an der deutschen Schneiderei wurde durch die Recherchen für ein Buch über die Maßschneiderei neu geweckt. In Köln führte ich ausführliche Gespräche mit dem Kölner Tuchhändler Hellmut Rondholz in seinem damaligen Büro in der Kamekestraße Nr. 31/33. 45 Jahre lang hat er deutsche Schneider zwischen Flensburg und München beliefert. Er war nicht nur Importeur und Großhändler, sondern vor allem auch Repräsentant angesehener englischer und schottischer Tuchhäuser wie John G. Hardy, Harrisons of Edinburgh, Holland & Sherry oder J. Minnis. In unserem Gespräch wurde für mich die Geschichte des deutschen Maßschneiderhandwerks lebendig und es kam auch so etwas wie Wehmut auf angesichts der unwiederbringlich verlorenen Tradition. Als mir Volkmar Arnulf im letzten Jahr seine Chronik der Berliner Schneidergilde 1288-1988 überreichte, musste ich beim Durchblättern an das Interview mit Hellmut Rondholz denken. Viele Namen, die er mir als Berliner Schneiderlegenden genannt hatte, fand ich in dem Buch von Volkmar Arnulf wieder. Als ich Hellmut Rondholz gegenüber saß, trug ich eine Tweedjacke von John Coggin. Auch als ich 2005 beim Weltkongress der Maßschneider in Berlin den Ländervergleich moderieren durfte, trat ich in einem Anzug aus London auf. Zahlreiche Begegnungen mit deutschen Schneidermeistern bei Tagungen, Seminaren, Recherchebesuchen in Werkstätten oder auf Messen erweckten immer wieder den Wunsch, erneut etwas hier in Deutschland zu bestellen.





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